Noch 5 Minuten bis zum Start. Die Musik wird lauter. Der Bass wummert, das Gedröhne geht durch Mark und Bein. Die letzten Spuren von Müdigkeit sind damit passé, ich kann es kaum erwarten, dass die Kirchturmuhr in Maria Alm Mitternacht schlägt und das Rennen über die Endurance Distanz beginnt.
84 Kilometer und 5.400 Höhenmeter warten auf uns. Die Strecke ist nicht das Original – unmöglich aufgrund der starken Schneefälle in diesem Winter. Vor 28 Jahren habe es zuletzt eine so extreme Schneelage gegeben. Bilder beim Briefing beweisen: Zahlreiche Streckenteile wären nicht passierbar, zum einen aufgrund der Lawinengefahr, zum anderen weil da, wo normalerweise zu diesem Zeitpunkt im Jahr bereits sommerliche Trails warten, 10 Meter hohe Schneewände stehen. Speziell einer der letzten Streckenteile zwischen Statzerhaus und Hundstein würde uns Läufern wohl im wahrsten Sinne des Wortes das Genick brechen.
Macht aber nichts, jeder ist darauf eingestellt. Es ist zwar ein wenig schade, aber bei diesen Bedingungen in so kurzer Zeit überhaupt eine Ersatzstrecke auf die Beine zu stellen, ist vom Veranstalter meiner Meinung nach eine enorme Leistung!
(Wer die Strecke nicht kennt, muss wissen, dass diese grundsätzlich das ganze Jahr über permanent markiert ist. Es musste also nicht nur die neue Strecke markiert, sondern auch die ‚alte‘ überklebt werden).
Bis 2017 war ich, so würde ich sagen, ziemlich intensiv bei Ultratrails unterwegs. Was danach folgte? Das Leben. Hauskauf, -verkauf, Zwillinge (und dann waren es 4 Kinder), viel Arbeit, Bänderriss und so weiter und so fort. Kurz gesagt: 2018 war ein Jahr zum Abhaken. Die Moral war nicht selten am Boden. Aber wie heißt es so schön: Nach jedem Tal kommt ein Berg, irgendwann musste es wieder bergauf gehen. Umso motivierter startete ich im Herbst in die Vorbereitung für die neue Saison. Der Winter verlief top. Der März war ein krankheitsbedingter Totalausfall (Die Bazillenschleuder = unsere Kinder erwischte mich doch noch), aber bei wem läuft schon alles perfekt? Seither konnte ich viele Trail-Kilometer im Mühlviertel sammeln. Das Gefühl stimmte und die Vorfreude auf den Hochkönigman in Maria Alm, ein Rennen und ein Gebiet, das ich einfach liebe, stieg!
Bereits am Donnerstag hieß es: Auf Richtung Salzburg. Zu zweit. Die Kinder bei den Omas untergebracht und die Aussicht auf eine ganze Nacht Schlaf vor dem Rennen. Gut untergebracht im Trailrunning Hotel Eder fast neben dem Start. Perfekt. Am Donnerstag noch ein wenig auf der Easy Trail Strecke spazieren gehen, am Freitag warten auf den Start. Wann, ja wann, wurde es endlich Abend….
Equipment vorbereiten, Pflichtausrüstung kontrollieren, Getränke und Essen einpacken, Dropbag abgeben. Das übliche Programm, das trotzdem nie zur Routine wird.
Ab 11 Uhr: Briefing, nochmal aufs Klo laufen, Ausrüstungskontrolle und warten auf den Startschuss. Die Stimmung ist mega. Das Siegerpodest steht leer auf der Bühne. Kurz halte ich inne und denke: 20 Uhr, Siegerehrung, ich will hier heute dabei sein.
Endlich geht es los! Wir stürmen hinaus in die Nacht, hinauf Richtung
Natrun und Jufen. Fast alles wird gelaufen, die Beine sind frisch. Es
regnet leicht, die Wurzeln sind nass, der Boden tief und matschig. Ich
bin glücklich und dankbar, endlich wieder in einem Ultra Rennen sein zu
dürfen – und vielleicht ein wenig übermotiviert. Nach der Jufenalm
erreichen wir das Brimbachkögerl, anschließend den Massingsattel. Die
erste Runde führt (geändert) über die Speedtrail Strecke, die ich recht
gut kenne. Bergab in einem Stau stehen? Bitte nicht. So gebe ich bei den
Downhills richtig Gas. Ich spüre schon nach der ersten Runde mein Knie
(fühlt sich plötzlich wie ein Läuferknie an) und meine Oberschenkel
werden nach dem Rennen definitiv einen guten Muskelkater haben. Ein
ausgewaschenes Bachbett mit großen Steinen, kleinen Steinen, rutschigen
Steinen ist für mich brutal. Hier kann niemand langsamer sein als ich.
Anschließend geht es abwärts Richtung Maria Alm.
Nach der ersten Runde schnappe ich mir an der Labe eine Handvoll
Soletti. Tina Hitzenberger, die spätere Siegerin, überholt mich. Macht
nichts, das Rennen dauert noch ewig. In der zweiten Runde bergauf
Richtung Massingsattel wechsle ich vom laufen ins schnelle wandern. Der
ökonomische Ultra-Rhythmus: Bergauf gehen, flach und bergab laufen. Die
Zeit vergeht wie im Flug. Um 4.30 Uhr zeigen sich bergauf die
Silhouetten der Berge, die Sonne geht auf, die Vögel werden wach und
beginnen zu singen. In der Nacht laufen erfordert auf diesen Trails mit
Stirnlampe höchste Konzentration, aber der Moment, wenn es im Rennen
hell wird, die Welt erwacht, ist immer wieder einzigartig und schwer zu
beschreiben. Für mich zählt das immer zu den Highlights eines
Ultratrails.
Nach etwa 28 Kilometern haben wir bereits 2.000 Höhenmeter in den Beinen. Jetzt geht es erstmal abwärts Richtung Hinterthal. Nur nicht verlaufen. Über umgestürzte Bäume hüpfen, ein gutes Tempo und den eigenen Rhyhtmus finden.
Bei Kilometer 35 wartet die erste Labe. Erste Dame, wird mir gesagt. Keine Ahnung wie das gegangen ist, aber Tina ist sicher ganz knapp hinter mir. Ich fülle meine ‚Flasks‘ (= Trinkflaschen) an, schnappe mir wieder eine Handvoll Soletti und laufe weiter. Ich fühle mich richtig gut und es macht Spaß. Es folgt ein langer Anstieg hinauf Richtung Kilometer 40. Schneefelder werden passiert, technische Trails warten. Dann geht es abwärts, abwärts, abwärts und plötzlich frage ich mich wo ich bin. Warum habe ich schon so lange niemanden mehr gesehen? Kann das hier überhaupt stimmen? Im Schnee sind aber jede Menge Spuren von Laufschuhen und so komme ich nicht auf die Idee, den GPS Track zu überprüfen. Dumme Idee, ganz dumm… plötzlich stehe ich auf einer Straße. Geradeaus geht es auf der Marathonstrecke weiter. Das kann nicht sein. Also laufe ich ein Stück abwärts auf der Straße. Na, jetzt stimmt gar nichts mehr. Das ist der Filzensattel. Panik kommt auf. Ich nehme die Karte heraus. Kann nicht stimmen. Handy. Route ansehen. Scheisse. Scheisse. Scheisse.
Eins meiner Saison-Highlights, ein Rennen, das ich so liebe und jetzt
bin ich irgendwo? Meine größte Sorge ist nicht die Zeit, die ich
verliere, sondern ob ich überhaupt zurückfinde und weitermachen kann.
Wenn ich irgendwas nicht will, dann, das Rennen beenden zu müssen. DNF?
Das gibt es bei mir eigentlich nicht. Also gut. Ruhig bleiben. Erstmal
orientieren. Ich muss jetzt wieder aufwärts. Ich laufe durch den Wald,
so müsste ich irgendwie zurück auf die Strecke kommen. Als ich denke,
fast wieder richtig zu sein, stehe ich vor einer Schlucht. Steil
abwärts. Na, das geht nicht. Also wieder eine Kurve, wieder umlaufen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit bin ich wieder auf der Strecke. Vermutlich
waren es 3 bis 4 Kilometer, dazu vermutlich 200 Höhenmeter. Ich habe
eine unglaubliche Wut – auf mich selbst. Ausgerechnet hier muss das
passieren. Aber ich bin auf der Strecke. Engel und Teufel auf meinen
Schultern sind sich nicht einig, ob ich mich freuen oder explodieren
soll.
Labestation Dientner Sattel. Von vielen überholt, mit negativen Gedanken unterwegs. Zwei Läufer hinter mir schließen auf. „Positiv bleiben, Sigi“, meint einer. Wie recht er hat. Ich versuche es, brauche aber sicher 2, 3 Stunden bis ich wieder bei mir selbst bin.
Das Stück bis Dienten zehrt an meinen Kräften. Zu querende Schneefelder, bei denen die Angst ein wenig mitläuft (wer einmal auf so einem Feld ausgerutscht ist, hat keinen Spaß mehr daran).
Bergauf geht es heute richtig gut voran. Bergab habe ich Probleme.
Ein Läuferknie hatte ich vor Jahren einmal, jetzt ist es zurück. Ohne zu
hinterfragen, warum und wieso halte ich alle paar Kilometer an und
versuche das ein wenig heraus zu massieren. Teilweise funktioniert das,
teilweise heißt es einfach: ignorieren, so gut es geht. Am Weg nach
Dienten biege ich gemeinsam mit einem anderen Läufer noch einmal falsch
ab, aber diesmal sind es nur ein paar Minuten Umweg. Ab dem Zeitpunkt
achte ich auf jedes einzelne Fähnchen.
In Dienten angekommen, wechsle ich vom Scott Supertrac RC Ultra auf
den Salomon Speedcross 5. Beides super Schuhe für lange Distanzen. Der
Wechsel ist nicht notwendig, aber meinem Kopf tut es gut, das Gefühl zu
haben, bei diesem großen Checkpoint frisch hinaus zu starten. Ein paar
Löffel Suppe, ein paar Kekse und es geht weiter.
Während ich in der Nacht mit Handschuhen unterwegs war, wird es jetzt
sommerlich warm. Ich fühle mich im flachen und bergauf immer noch sehr
gut. Der Weg schlängelt sich bergauf, ehe wir wieder mit dem Schnee in
Kontakt kommen. Schneefelder en masse. Matsch, Äste, Bäume. Zwei Schritt
vor, einer zurück. Keine einfache Aufgabe. Wenn es einem Tiefpunkt in
diesem Rennen gibt, dann ist er jetzt da. Vor mir sind Läufer, hinter
mir ebenso. Die Gespräche untereinander verstummen, es ist ruhig. Jeder
ist hier gefordert und darauf konzentriert, diesen Streckenabschnitt
möglichst gut hinter sich zu bringen. Eine gefühlte Ewigkeit dauert es,
bis wir wieder auf trockenen Untergrund stoßen. Wie einfach sich das
plötzlich anfühlt!
Noch ein Stück bergauf und dann geht es lange abwärts Richtung Hämmermoosalm. Eine schöne Forststraße – ohne Schnee. Herrlich. Das Knie streikt, ich bin langsam. Lösungen finden heißt die Devise. In dem Fall: So wenig wie möglich abwinkeln. Ich laufe also wie eine Holzpuppe bergab. Obwohl es richtig weh tut, bin ich nun wieder voller Zuversicht, denn es sind noch knapp 30 Kilometer bis ins Ziel und was, bitteschön, soll mich hier noch aufhalten?
Bei der Labe heißt es kurz stärken – ein Schluck Cola, ein paar Gummibären und dann folgen 900 Höhenmeter hinauf bis zum Aberg. Die Liftstation ist schon vom Tal aus sichtbar und weit, weit weg. Erst einmal müssen 2, 3 Kilometer am heißen Asphalt bewältigt werden. Irgendein Haus muss doch einen Brunnen haben! Bei diesem Rennen kommen wir Läufer durch mehrere Klimazonen. Winter in der Nacht, jetzt herrscht Hochsommer. Endlich ein Rinnsal neben der Straße. Dreckig, aber ausreichend. Die Kappe wird hineingesteckt, der Kopf gekühlt.
So ein Anstieg ist lang und ich beginne nachzudenken, wer wohl hinter mir ist und wie weit weg. Im vergangenen Jahr wurde ich auf den letzten 10 Kilometern von einigen Läuferinnen überholt, weil ‘der Ofen’ einfach aus war. Dass Tina weit weg ist, dessen bin ich mir sicher und das ist mir auch völlig egal, aber ich will heute auf dieses Podest. Und so bilde ich mir ein, dass mich sicher gleich wieder jemand von hinten überrollt. Ich habe ein Talent für Blech, das heißt den vierten Platz. Nicht heute, nein! So gut es geht, schiebe ich mich den Berg hinauf. “Komm schon, du bist stark”, sage ich immer wieder zu mir selbst. Während ich in der Mitte des Rennens moralisch wirklich am Boden war, bin ich jetzt wieder voll da. Die letzte Labe ist erreicht. Jo und Bettina warten dort – unter anderem mit Cola. Ein Traum! Nach kurzer Zeit mache ich mich wieder auf den Weg. Über 1.000 Höhenmeter bergab. In Humpel-Hüpf-Stock Taktik (was gäbe ich jetzt für eine Blackroll für mein Knie… ) rückt das Tal immer näher. Zähne zusammenbeißen und ans Ziel denken.
Maria Alm ist schon in Sichtweite, noch einmal geht es aber bergauf, etwa 250 Höhenmeter. Ich freue mich so sehr, dass ich offenbar noch immer auf Platz 2 bin, dass mir dieser letzte Anstieg so gar nichts mehr ausmacht. Sogar einen Wasserhahn an einem Haus finde ich und halte kurz meinen Kopf darunter. Das sind die kleinen Freuden im Leben!
Irgendwann ist es soweit, ein Schild mit der Aufschrift ‘FINISH’
weist den Weg nach unten. Man hört bereits den Zielsprecher. Noch einmal
ein Blick zurück – nein, da kommt niemand. Ich renne hinunter, biege in
die Zielkurve ein, schlage mit den Stöcken gegen die Kuhglocke und bin
da! 14 Stunden, 20 Minuten. Geschafft!
Sehr glücklich und dankbar lasse ich mir die Finisher Medaille umhängen, schnappe mir einen Schluck kühles, alkoholfreies Bier, stecke meine Beine in den Pool und genieße den Moment.
Wie wahr.
Danke Hochkönigman. Wir sehen uns am 6. Juni 2020!
Ich laufe seit vielen Jahren Ultratrails und bin seit 20 Jahren im Ausdauersport aktiv. Meine Erfahrung möchte ich an dich weitergeben.
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